Der Wind blies flach über die vereiste Ebene, trieb feine Kristalle wie flüchtige Gedanken durch die Luft. Lior zog den Mantel enger um sich, doch die Kälte, die in ihm sass, kam nicht von aussen. Es waren nun schon einige Tage und Nächte, in denen er mit den Suchern unterwegs war. Immer wieder erhellte Lior die düstere Nacht seiner Begleiter mit einer seiner Geschichten. Geschichten, die direkt in seinem Herzen heranwuchsen und über seine Lippen heraussprudelten, so wie Wasser aus einer Tonne sprudelte, wenn diese ganz gefüllt war. Er freute sich, die staunenden und zufriedenen Gesichter zu beobachten, während er erzählte. Aber das war auch immer dieses diffuse Gefühl, als würde er etwas verloren gehen, während er sprach. Als würden die Geschichten beim Heraussprudeln ein bisschen aus seinen Inneren mit hinaus spühlen. An diesem Morgen hatte er den Suchern einen Vorsprung gelassen, er brauchte etwas Zeit, um die Gedanken, die unentwegt durch seinen Kopf rasten zu beruhigen. Es waren Erkenntnisse, die ihn ängstigten.
„Es war ein Lied… ich weiss es. Ich habe es geliebt. Und jetzt…“ – er schloss die Augen. Suchte. – Nichts. So oft, wenn er nicht einschlafen konnte, hatte ihm die Mutter dieses Lied gesunden, es hatte seine tobenden Gedanken beruhigt, hatte ihm Frieden geschenkt. Und jetzt war es weg, nur noch ein Schatten einer Erinnerung. So wie ein Traum: Je intensiver er sich bemühte, es zu greifen, desto mehr entzog es ihm sich.
„Wie viel bin ich bereit zu verlieren?“, fragte sich Lior unweigerlich. Das Leuchten in den Augen der Sucher, das Flackern der Hoffnung, welches für einen Moment stärker war, als die Kälte. Das lag in der Waagschale, gegenüber seinen Erinnerungen, allem, was ihm von seiner Familie noch geblieben ist. Wie viel von sich selbst durfte er verschenken, bevor nichts mehr übrigbleibt?
„Wenn ich weitererzähle, verliere ich mich. Stück für Stück. Aber wenn ich schweige… wer erzählt dann noch? Sie brauchen Geschichten. Mehr, als sie es je zugeben würden.“
Ein Schatten legte sich über sein Herz. Ist es das, was der Alte meinte. Ist das der Fluch – oder das Opfer.“ Er blieb stehen, überblickte die weite weisse Fläche. In der Ferne zogen die Sucher wie dunkle Punkte über das Eis.
„Was ist wichtiger: mich selbst zu bewahren oder ihnen Licht zu geben?“ Er fand keine Antwort auf diese Frage, sie würde zu einem ständigen Begleiter werden, das spürte er. Aber ehe er sich weiter um die Beantwortung kümmern konnte, begann plötzlich der Boden unter seinen Füssen zu vibrieren. Ein tiefes, kehliges Brummen kroch durch den Schnee – nicht laut, aber fühlbar. Es liess seine Eingeweide erzittern, wie ein unheilvolles Raunen aus der Tiefe der Erde. Lior erstarrte. Er kannte dieses Geräusch. Gleiter. Er warf sich flach auf den Boden und robbte in Richtung einer Mulde, kaum mehr als ein seichtes Tal zwischen zwei eingefrorenen Felsen. Ein wenig erlaubte er sich den Kopf zu heben und dann sah er, was er bis eben nur gefühlt hatte: Zwei matte Lichter tasteten über die weisse Ebene, gedämpft durch die Schneeflocken, die unterdessen feiner und dichter fielen. Dahinter bewegte sich ein dunkles, kantiges Fahrzeug auf schwebenden Modulen, ein unheimliches Pulsieren kam aus diesen Modulen, es liess das Fahrzeug knapp über dem Untergrund schweben und sorgte für das Vibrieren. Dahinter: Silhouetten. Soldaten. Vier oder mehr, Lior konnte es nicht genau ausmachen. Das war also eine der, unter Suchern gefürchtete Regierungspatrouille.
Lior wagte kaum zu atmen. Er wusste nicht, was sie suchten – aber er wusste, dass niemand ausserhalb der Auraske willkommen war. Nicht allein. Nicht unregistriert. Sie blieben stehen. Kaum hundert Meter entfernt von dem Felsen, der ihm etwas Deckung bot. Ein Suchscheinwerfer sprang an – scharf, kalt, unbarmherzig. Er fegte langsam über das Gelände. So schnell wie er konnte zog er den Kopf ein. Trotzdem war es sicher, sie hatten ihn entdeckt. Panik durchfuhr ihn, und lähmte ihn für einen Sekundenbruchteil. Dann schalteten sich seine Instinkte ein, und er kroch tiefer in die Senke. Der kalte Schnee brannte auf seiner Haut. Vor ihm wurden die Stimmen lauter. Kurze harte Befehle hallten über die karge Gegend. Metallisches Klacken. Dann das Geräusch von Stiefeln, die in den Schnee einsanken. Sie kamen näher. Lior war sich sicher, dass sie ihn demnächst entdecken würden. Trotzdem zwang er sich, ruhig zu bleiben. Er wagte es kaum, zu atmen. Dann, als ein Lichtkegel nur wenige Meter von ihm entfernt auftauchte, stiess er sich ab und rannte los.

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