Der letzte Erzähler (Fortsetzungsgeschichte 4. Teil)

Der Wind hatte nachgelassen, doch die Kälte war geblieben und kroch wie eine hinterlistige Schlange immer tiefer unter die diversen Schichten an Kleidung, die Lior trug. Tag für Tag bewegte er sich mit schwerem Schritten durch die schneebedeckten Ebenen nordwärts, seinen Fokus fest auf die Auraske gerichtet, von der das Mädchen gesprochen hatte. Die Stille der Einöde war überwältigend – sie legte sich wie ein Schraubstock um seine Gedanken und drohte sie, zu erdrücken. Er war allein, und die Leere machte ihm mehr zu schaffen, als die Kälte.

Am dritten Tag nachdem der aufgebrochen war entdeckte er eine Gruppe vermummter Gestalten, schwer beladen, mit leeren Gesichtern und entschlossenen Schritten. Sucher. Eine Gruppe von Männern, die – wie früher sein Vater – durch die Ebenen zogen und nach Brennbarem suchten. Es waren nicht die unterhaltsamsten Gesellen, aber er war froh, dass er sich ihnen anschliessen durfte. Es war nicht ratsam, alleine durch die öden Flächen zu ziehen. Zu oft hörte man von einsamen Wanderern, die verschwunden waren. Wölfe und Polarbären hatten sich in ganz Europa ausgebreitet und waren doch die kleinere Gefahr für Umherziehende. Weit mehr gefürchtet unter denen, die durch die unwirtlichen Ebenen zogen, waren die Patrouillen der Regierung. Keiner wusste genau, woher sie kamen, sie tauchten immer unvorhersehbar auf. Es war nicht verboten, durch die Ebenen zu ziehen, aber die Regierung sah das nicht gerne. Und immer wieder wurde von Menschen berichtet, die verschwunden sind.

Nächte vergingen in Schweigen, unter dem kalten Sternenzelt, das wie eine zerbrochene Kuppel über ihnen hing. Doch dann, an diesem einem Abend, sie hatten ihr Lager in den Ruinen eines Dorfes aufgeschlagen und die Flammen ihres kleinen Feuers kämpften knisternd gegen das Dunkel an, geschah es: Lior blickte ins Feuer. Die Funken tanzten. Und plötzlich erhob er seine Stimme. Zögerlich zuerst, dann fliessend, wie ein Strom, der endlich seinen Weg gefunden hatte:

„Es war einmal ein Dorf, das mitten im Eis lebte. Und in diesem Dorf gab es einen Brunnen, der niemals gefror. Niemand wusste, warum. Man sagte, der Brunnen sei so alt, dass er sich noch an die Zeit erinnerte, da Wasser in diesen Gegenden nie gefror und dafür sorgte, das Wiesen und Wälder immer Grün waren.“

Die Blicke der Sucher waren an seine Lippen geheftet. Sie wagten es kaum zu Atmen, aus Angst, dass das leiseste Geräusch die Geschichte unterbrechen könnte.

„Die Menschen kamen von weither, um aus dem Brunnen zu trinken. Und jeder, der trank, erinnerte sich – an etwas, das er längst verloren glaubte. An ein Lied, an den Namen eines Ahnen, an den Duft von Sommerregen. Doch der Brunnen warnte: Trinke nur, wenn du bereit bist, dich zu erinnern. Denn was man verloren hat, kommt nicht immer als Trost zurück.“

Lior hielt inne. Der Wind rauschte durch die Ruinen, wie ein uraltes Flüstern.

„Eines Tages kam ein Mädchen. Sie hatte ihr ganzes Dorf verloren. Und sie wollte nur eines: vergessen. Doch der Brunnen kannte ihren Schmerz. ‚Du kannst trinken‘, sagte er. ‚Aber du wirst nicht vergessen – du wirst verstehen.‘ Und sie trank und weinte bittere Tränen. Aus diesen Tränen wuchs ein Baum, mitten im Eis. Der einzige seiner Art. Noch heute steht er dort. Und wenn der Wind richtig steht, hört man ihn flüstern.“

Stille. – Die Flammen knackten, als würden sie applaudieren.

Die Sucher blickten ihn an – nicht Misstrauen oder Angst konnte er in ihren Gesichter lesen, sondern mit etwas, das er lange nicht gesehen hatte: Staunen. Hoffnung und Wärme, die kaum denkbar war in dieser eiskalten Nacht.

Und in diesem Moment spürte er, dass etwas in ihm erwacht war. Etwas Altes. Etwas, dass er bisher nicht in sich gefühlt hatte.

Die letzten Flammen zogen sich langsam in die Glut zurück. Die Nacht war still geworden, als hätte selbst der Wind der Geschichte gelauscht.

Einer der Sucher, ein älterer Mann mit wettergegerbtem Gesicht, beugte sich vor.

„Du hast erzählt wie einer, der die Welt gesehen hat“, sagte er leise. „Woher kommst du, Junge? Wer hat dir das Erzählen beigebracht?“

Lior sah ins Feuer. Die Frage kam nicht überraschend, doch sie traf ihn dennoch unvorbereitet. Er schwieg lange.

„Ich weiss, dass meine Eltern tot sind“, sagte er schliesslich. „Ich war noch klein. Es ist… lange her.“ Er suchte in seinen Erinnerungen nach einem Namen, einem Ort, einem Bild – aber da war nur Nebel.

„Ich erinnere mich an ihre Stimmen. An den Geruch des Ofens. An den Klang von Regen auf Glas. Aber nicht, wie der Ort hiess.“ Er blickte auf. „Vielleicht war er nicht wichtig. Oder… vielleicht haben ihn die Geschichten genommen.“

Die Sucher schwiegen. Einer nickte nur langsam, als wüsste er, wovon Lior sprach.

„Dann bist du einer von denen“, murmelte der andere. „Die ohne Wurzeln, aber mit Flügeln.“

Und so sassen sie weiter – eine Gruppe Fremder in der Kälte der Welt – verbunden durch ein Feuer, eine Geschichte und eine Erinnerung, die nur halb lebendig war.

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