Der letzte Erzähler (Fortsetzungsgeschichte 6. Teil)

Der Metallkäfig ratterte. Die Ketten klirrten bei jeder Bodenwelle, über die das Gefährt glitt. Lior sass angekettet auf der ungemütlichen Ladefläche, eingehüllt in eine schmutzige Decke, die kaum gegen die Kälte half. Der Frost biss sich durch seine Kleidung, kroch ihm in die Knochen. Seine Kleidung hielt ihn warm, solange er sich draussen bewegte, aber nun, in diesem offenen Käfig, war er der Kälte schutzlos ausgeliefert. Seine Finger waren bereits so kalt, dass er sie kaum mehr bewegen konnte. Die Welt vor dem Gitter war grau, leblos, ein einziges Meer aus Eis und Schnee, das kein Ende zu nehmen schien.

In seinem Kopf war es auch grau. Die Niederlage, die er erlebt hatte machte ihm zu schaffen. Er war zwar schnell gewesen, aber nicht schnell genug, um den trainierten Soldaten zu entkommen. Nach wenigen Metern hatten sie ihn geschnappt. Immer noch hallten ihre Fragen in seinem Kopf:

«Wer hat dich geschickt?»
«Was suchst du ausserhalb der Kuppeln?»

Er hatte geschwiegen, so lange es ging. Ihr Misstrauen spürbarer. Sie glaubten nicht an Zufälle. Und sie hatten gewusst, was er ist. Mit jeder Stunde wurden ihre Stimmen lauter, schneidender. Aber er schwieg und das fiel ihm noch viel schwerer, seit das Erzählen zu seiner Leidenschaft geworden war. Schliesslich hatten sie resigniert und ihn in den Käfig verfrachtet, in dem er nun sass.

Immer näher kamen sie der Auraske. Und Lior staunte, weil die Kuppel vor ihm mit jedem Meter grösser wurde. Schliesslich öffnete sich in der Kuppel eine Sicherheitskupel und der Gleiter fuhr hindurch. Es zischte, als der Druckausgleich stattfand. Die Kälte blieb draussen. Wärme strömte herein wie eine Welle, die über ihn hinwegfegte. Der Kontrast war überwältigend – seine Haut prickelte, seine Lungen füllten sich mit feuchter, lebendiger Luft.

Als sich die Türen öffneten, blendete ihn das Licht. Kein fahles Grau mehr. Kein Eis. Kein Wind. Vor ihm lag eine Welt, die er fast vergessen hatte: Häuser mit leuchtenden Fenstern. Kinderlachen. Pflanzen. Farben. Musik, leise, fremd, aber warm. Und mitten darin: Menschen. Lebendige Menschen. Keine Sucher, keine Soldaten – Menschen, die ein Leben führten, das nicht von der Kälte gezeichnet war.

Er taumelte aus dem Fahrzeug, gestützt von einem Wachmann. Sein Blick streifte über die geschwungenen Dächer aus Glas und Metall, über die Kuppel, die das Licht der Sonne einfing und wie flüssiger Bernstein über die Strassen warf.

Ein kurzes Aufblitzen in seinem Inneren – Hoffnung? Oder war es nur Erschöpfung?

„Du wirst verhört“, zischte die Stimme hinter ihm. „Bleib ruhig, dann hast du vielleicht eine Zukunft hier.“

Lior nickte mechanisch. Doch tief in seinem Innersten wusste er es: Er war dort, wo er hinwollte. In der Nähe der letzten Erzählerin. Und auch wenn seine Ketten noch fest sassen – ein Teil von ihm war schon längst auf dem Weg in die Freiheit.

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