Der letzte Erzähler (Fortsetzungsmärchen 3. Teil)

Am Morgen nach einer sternenklaren, aber schlaflosen Nacht suchte Lior den alten Erzähler auf. Die Geschichte, die dieser ihm erzählt hatte, liess ihn nicht mehr los – sie hallte in ihm wie ein Echo aus einer anderen Welt. Der Alte hatte im hinteren Teil des Gewächshauses einen Verschlag, in dem er ruhte. Als Lior darauf zuschritt, wurde ihm von Familienangehörigen des Alten der Zutritt verwehrt. „Er ist krank“, sagten sie. „Er braucht Ruhe, geh fort!“ 

Lior blieb hartnäckig, aber alle Versuche blieben erfolglos. Schliesslich zog Lior unverrichteter Dinge ab. Enttäuscht und ratlos, wie seine Reise nun weitergehen sollte, sass er da, als er ein leises Flüstern hörte: „Psst, junger Erzähler. Folge mir!“ Er blickte sich um, und sah ein Mädchen, das ihn zu sich winkte. Er erkannte das Mädchen wieder, sie hatte gestern dem Alten die Decke gebracht. Er ging zu ihr und sie bedeutete ihm stumm, ihr zu folgen. Über einige verschlungene Wege gelangten sie durch einen Hintereingang in den Verschlag des Alten.

Im dämmrigen Licht des Raums sass der Alte, eingehüllt in Decken, mit einem Ausdruck in den Augen, als hätte der Frost der Welt alle seine Gedanken gefangen. Als Lior ihn begrüsste, versuchte der Alte zu lächeln, doch in seinen Augen blieb die Leere.

„Versuch dein Glück“, flüsterte das Mädchen, das dicht hinter ihm stand. „Er heisst Grog.“

„Die Geschichte, erwürdiger Grog“, sagte Lior und trat etwas näher zu ihm. „Die, die du gestern erzählt hast. ist sie wahr? Hast du von mir erzählt?“

Der Alte schwieg lange. Dann schüttelte er kaum merklich den Kopf. „Ich… ich erinnere mich nicht.“

„Das war doch gestern Abend. Und deine Geschichte, sie war so echt. Sie hat sich so real angefühlt. Als wenn du direkt Bilder in mein Herz gemalt hättest.”

Für einem Moment, meinte Lior ein aufblitzen in den Augen von Grog zu sehen. Aber dann wurden die Augen sofort wieder matt und trübe. 

“Mein Kopf ist leer. Da sind keine Erinnerungen mehr, weder an Gestern noch an eine Geschichte, es tut mir leid”, meinte er und schloss die Augen. Lior dachte, dass der Alte eingeschlafen ist. Entmutigt drehte er sich um, und wollte ihn alleine lassen. Da flüsterte der Alte, kaum hörbar, mit brüchiger Stimme: „Suche die Letzte.“

Lior hielt inne. Langsam drehte er sich um. Doch der Alte war still, die Augen geschlossen.

Die Enkelin stand immer plötzlich wieder bei ihm. „Sie haben ihn gebrochen“, sagt sie leise. „Die Geschichten sind wertvoll, aber kosten auch. Mehr, als du denkst.“

Lior sah sie fragend an.

„Er war einer von ihnen. Ein Erzähler. Sie waren ein geheimer Bund, versteckt über ganz Europa. Doch sie verschwinden – einer nach dem anderen.“ Lior sah ihr an, dass sie darüber nachdachte, ob sie weitere Antworten mit ihm teilen konnte. Dann meinte sie in verschwörerischem Ton: „Es gibt noch eine. Eine Letzte. Sie lebt in einer der Aurasken. Gar nicht weit von hier etwas mehr im Norden. Aber sie hält sich gut versteckt..“

„Wo?“, fragt Lior.

„Das weiss niemand genau. Aber du wirst sie finden, wenn du wirklich suchst.“

Als er sich verabschiedete, hielt sie ihn noch einmal zurück. Ihr Blick lag  schwer auf dem reglosen Körper ihres Grossvaters: „Sei dir des Preises bewusst, Lior. Wenn du Geschichten erzählst, verlierst du ein Stück von dir.“

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